Stresst Ihr noch – oder liebt Ihr schon?
Stresst Ihr noch – oder liebt Ihr schon?
Eine Familie zu haben, kann die wundervollste Sache der Welt sein. Leider vergessen wir das manchmal, weil unser Alltag so anstrengend und stressig ist. Dabei ist er vielleicht genau deshalb so anstrengend und stressig, weil wir vergessen haben, mit welcher Kraft, Freude und Vision wir hineingelaufen sind ins Abenteuer Familie.
Es ist witzig. Sobald Eltern irgendwo erzählen, dass sie Kinder haben, werden sie mitleidig angesehen. Es fallen Sätze wie: „Oh, das ist bestimmt anstrengend!“ Oder: „Ist das nicht total nervig?“ Als seien diese Erwachsenen in einen richtigen Schlammassel hineingeraten, der erst wieder vorbei ist, wenn die gerade erst geborenen Kinder endlich aus dem Haus sind.
Flucht vor dem Familienalltag?
Dabei sind wir Eltern es doch, die sich dazu entschieden haben, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Warum tuen wir uns und allen anderen dann trotzdem so Leid? Als hätten wir uns durch die Elternschaft von uns und unseren einstigen Lebensträumen verabschiedet. Warum fühlen wir uns im eigenen Heim gefangen und geben unseren Partnern die Schuld daran, als hätten sie uns zu dieser Familie gezwungen? Warum sagen wir dauernd solche Sätze wie: „Ich brauch dringend mal eine Auszeit!“
Weil die Sehnsucht, vor den eigenen Kinder, der Partnerschaft, dem Familienleben flüchten zu können, längst zum allgemeinen Konsens gehören.
Scheinbar automatisch werden wir Erwachsenen zu Müttern und Vätern, die ihren Alltag mühsam bis unerträglich finden. Plötzlich besteht er aus lauter Dingen, die wir uns so nicht vorgestellt haben. Wir könnten durchdrehen, wenn „schon wieder“ ein Saftglas umkippt, die Kinderzimmer „schon wieder“ so aussehen, als sei eine Bombe eingeschlagen, in Mathe „schon wieder“ eine Fünf geschrieben wurde. Wir wollen das Selbstverständliche nicht akzeptieren: dass Babys nicht nur blumig duften und niedlich schlummern und Teenager heimlich rauchen und im Bad die nassen Handtücher auf dem Boden liegen lassen.
Dieser Widerstand ist in etwa so absurd, wie wenn Christoph Kolumbus sich mitten auf dem Ozean darüber beklagt hätte, dass so eine Entdeckerfahrt echt anstrengend ist. Von wegen: „Leute, ich brauche dringend eine Auszeit!“ Jeder hätte ihn sofort für komplett unzurechnungsfähig gehalten!
Der einzige Unterschied zwischen Kolumbus und uns liegt darin, dass wir so tun, als hätten wir mit unserer Elternschaft, unserer Familie keine freie Wahl getroffen. Oder als würde ausgerechnet mit unserer Familie etwas nicht stimmen. Wir beklagen uns darüber, dass unsere Kinder sich weniger „im Griff“ haben als wir uns selbst. Wir erziehen mit schlechter Laune, anstatt mit Liebe. Wir sind es leid, unsere Santa Maria durch die Nacht und sämtliche Unwetter zu segeln, im ständigen Auf und Ab mit unseren Partnern, wer hier eigentlich das Sagen und wer die Mehrarbeit hat.
Warum nicht mal ein Held wie Kolumbus sein?
Warum feiern wir Mütter und Väter nicht in uns den großen und mutigen Abenteurer Christoph Kolumbus, der sich entschlossen aufmachte, seinen Lebenstraum von Freiheit zu erfüllen? Hat Christoph Kolumbus jemals gesagt: „Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nie losgefahren?“
Er hat sich in sein Abenteuer gestürzt, obwohl er wusste, dass es enorme Herausforderungen mit sich bringen würde. Das liegt in der Natur des Abenteuers. Er hat dafür die volle Verantwortung übernommen. Mit Sicherheit hätte er es als Beleidigung seiner Autorität empfunden, wenn ihm irgendjemand mitleidig auf die Schulter geklopft und gesagt hätte: „So ein Sturm ist bestimmt nervig!“ Oder: „Wie kommst du nur mit dieser minderbemittelten Mannschaft klar?“
Elternschaft ist nichts anderes, als die glorreiche Fahrt mutiger Abenteurer, die mit der ihr anvertrauten Mannschaft in See stechen. Mal weht kein Lüftchen, dann fegt wieder ein heftiger Orkan über uns hinweg. Auch auf unserem Schiff gibt es Meutereien und furchtbare Epidemien. Vielleicht bricht sogar mal der Mast. Doch genau wie Kolumbus sollten wir niemals an unserem Ziel zweifeln oder uns klagend das Steuerrad aus der Hand nehmen lassen.
Genau wie von Kolumbus, hängt von uns Eltern das Gelingen unsere Reise ab. Er hatte eine Vision. Wir haben eine Vision. Er hatte die Verantwortung. Wir haben die Verantwortung. Hätte Kolumbus sich gegen seine Mannschaft gewendet, so, wie wir uns gelegentlich gegen unsere eigene Familie wenden, hätte sein Schiff nicht mal den Hafen verlassen und er niemals das Unglaubliche entdecken können. Solange er entschlossen war, waren es alle anderen auch. Seine Begeisterung, Teil von etwas ganz Großem zu sein, hat ihn zum unsterblichen Helden gemacht. Er hatte sich ins Ungewisse begeben, um eine neue Welt zu entdecken. Aufgeben, Umdrehen kam nicht in Frage.
In eine neue Welt mit unseren Kindern
Bevor wir mit unseren Familien Schiffbruch erleiden, sollten wir an unsere Kraft, an unsere Freude, an unsere Gemeinschaft und an unseren einstigen Lebenstraum von etwas ganz Großem denken und darauf vertrauen, dass unsere Herzen – unser innerer Kompass – uns leiten werden. Mit jeder Herausforderung werden wir stolzer und sicherer werden. Egal, ob „echte“ oder Patchworkfamilie – wir Mütter und Väter, unsere Kinder werden eine Entdeckung machen, von unglaublicher Schönheit, Weisheit und Freude. Wir werden vor Anker gehen in einer Welt voller Freiheit, Liebe und wahrer Partnerschaft. Machen wir uns auf – in eine neue Welt mit unseren Kindern.
Zu den Autoren:
Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, ist Schriftstellerin und Kolumnistin. Mit ihrem Debütroman »Relax« wurde sie zur Bestsellerautorin und zur Stimme ihrer Generation. Sie wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Marcus Jauer, geboren 1974, ist Journalist. Er arbeitete im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und schreibt heute als Autor für die Süddeutsche Zeitung. Das Ehepaar lebt gemeinsam mit seinen fünf Kindern in Berlin.
In „Stresst Ihr noch – oder liebt Ihr schon“ erzählen Alexa Hennig von Lange und Marcus Jauer davon, wie aus ihnen – der alleinerziehenden Mutter und dem Großstadtsingle – ein Paar wurde. Abwechselnd und in kleinen Geschichten schildern sie die Schwierigkeiten und Glücksmomente, wenn ein Mann und eine Frau eine immer größer werdende Familie gründen und sich dabei als Paar nicht verlieren wollen.