Bildung als kritische Infrastruktur
Letzte Woche passierte mal wieder, was vor einigen Jahren noch so gut wie undenkbar war: Die Schulen blieben geschlossen. Kein Präsenzunterricht, stattdessen Arbeitsaufträge. Der Grund: Unwetterwarnung und der Umstand, dass man wohl nicht wusste, ob die Fenster nun wegen Corona offen oder wegen des Sturms geschlossen bleiben sollten.
Als Elternteil fragt man sich doch mal wieder, warum der Unterricht dann nicht wenigstens digital, also über Zoom oder Skype verläuft. Bekommt unsere digitale Infrastruktur das nach zwei Jahren Pandemie noch immer nicht hin? Manch einer mag einwenden, es ginge nur um zwei Tage. Ich erwidere: „Es geht ums Prinzip!“
Die Schüler haben ein Anrecht darauf
Laut Bundesverfassungsgericht ist das „Recht auf schulische Bildung“ ein Grundrecht, denn es soll sicherstellen, dass unsere Kinder zu selbstständig denkenden, eigenverantwortlichen Individuen heranwachsen. Schon als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde – und das ist über 16 Jahre her – wusste man, dass sich hinsichtlich des Zugangs aller Bundesbürger zum Internet und Mobilfunk dringend etwa tun musste, doch es tat sich nichts. War ja „Neuland“. Dann kam die Pandemie und nicht einmal, als die da war, passierte wirklich etwas. Aber die Kinder sollten via Internet am Unterricht teilnehmen – gestaltet sich ohne Empfang als schwierig. Nicht nur deshalb sorgten Situation und Krisenmanagement in Kitas und Schulen in den letzten Monaten für Unmut und Verärgerung bei Kindern, Eltern, Aufsichts- und Lehrpersonal.
Nicht nur die Wirtschaft ist relevant für das System
Die Versorgung mit Wasser, Nahrung, Strom und auch der öffentliche Nahverkehr gelten als systemrelevant. Sie mögen uns alltäglich und mitunter als selbstverständlich erscheinen, doch die Pandemie hat gezeigt, wie kritisch die Versorgung hiermit ist. Aber sollte nicht auch Bildung als kritisch und relevant gesehen werden? Ist die Reifung unserer Kinder zu selbstständig denkenden Persönlichkeiten weniger wichtig als die Wirtschaft, für deren Aufrechterhaltung wie auch vor einigen Jahren bei der Bankenrettung, weil sie „systemrelevant“ sind, Milliarden investiert wurden? Schon klar, Kinder sind halt weder Wähler noch spenden sie an die Parteien.
Es betrifft ja nicht einmal nur die Schüler
Als Messkriterium, also Maßstab für die Bemessung einer kritischen Infrastruktur gilt, dass die Versorgung von 500.000 Menschen oder mehr beeinträchtigt wird. Wenn ein Betrieb dann als relevant für das Funktionieren des Systems gilt, wenn sein Ausfall mindestens 500.000 Menschen beeinträchtigt, muss man sich schon fragen, wieso Schulen nicht in diese Kategorie zu fallen scheinen? Es betrifft eben nicht nur die Schüler (und davon haben wir weit mehr als 500.000 in diesem Land), sondern auch deren unmittelbares Umfeld. Im Kontext der COVID-19-Pandemie haben über 200 Studien belegt, dass in etwa die Hälfte unserer Bevölkerung direkt oder indirekt von den Funktionseinschränkungen in Schulen, Kitas und anderen Bildungseinrichtungen betroffen sind.
Die Psyche nimmt irreparablen Schaden
Aber der Zugang zum Internet würde ja nur einen Teil des Problems lösen, denn der Mangel an sozialer Interaktion mit Gleichaltrigen hat schwerwiegende psychologische Folgen. Schon seit Jahren wächst die Anzahl der schwer psychisch kranken Kinder und Jugendlichen exponentiell, seit Beginn der Pandemie ist sie regelrecht explodiert. Das wahre Ausmaß der entwicklungspsychologischen Folgen für Kinder und Jugendliche können wir derzeit allenfalls erahnen. „Homeschooling“ ersetzt nicht das gemeinsame Lernen und die sozialen Kontakte, die ein wichtiger Aspekt des Heranwachsens sind.
Man muss auch an die Zukunft denken
Und wo wir von der Zukunft sprechen: Die Chancen- und Bildungsgleichheit der Pandemie-Generation ist in Gefahr. Was hier an Inhalten und Erfahrungen versäumt wird, wird man nie vollständig aufholen können. Das wiederum hat dann auch eine volkswirtschaftliche Relevanz durch die durchschnittliche Verminderung des Lebenserwerbseinkommens der heutigen Schüler. Bildung ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Kinder von heute als Erwachsene ihr Leben meistern können, was wiederum einen funktionierenden, stabilen Staat überhaupt erst ermöglicht. Bildung ist der Schlüssel für Wohlstand des Individuums und der Gemeinschaft und somit der Wirtschaft gleichermaßen und bildet so die Grundlage für den Zusammenhalt und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.
Fazit: Was sich ändern muss
Unsere Bildungseinrichtungen müssen krisenfest werden und das eben nicht nur im Falle einer Pandemie, sondern auch in Hinblick auf Extremereignisse wie Unwetter oder Terrorakte. Das kann auf verschiedenen Wegen sichergestellt werden. Dazu gehört einerseits der Ausbau der digitalen Infrastruktur, aber auch eine effizientere Schulverwaltungsstruktur, flächendeckende S3-Leitlinien und ein bereitliegender Rahmenplan für die Krisensituation.