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Familienmodell heute und gestern: Einzelkinder

Trotz sinkender Geburtenrate in Deutschland bleibt die Anzahl der Einzelkinder unverändert. Ein Blick auf das Zwei-Kind-Ideal und die Eltern, die sich bewusst für einen anderen Weg entscheiden.

Da standen wir nun beide, die kleinen Strampler in den Händen, und dachten über die wichtigste Frage als Paar nach: Sollten wir ein weiteres Kind bekommen?
Ihre Tochter Maria war gerade neun Monate alt. Mein Mann und ich standen mit den kleinen Stramplern in der Hand, die schon längst nicht mehr passten, und fragten uns, was wir mit den Babysachen machen sollten – weggeben oder behalten? Nach einer schwierigen Geburt hatte ich wieder mit dem Sport begonnen und fragte mich nun: Trainiere ich umsonst, weil ich vielleicht bald wieder pausieren muss?

Schon damals spürte ich, dass mich die Mutterrolle allein nicht vollkommen erfüllen würde. Ich liebte meine Tochter, ohne Zweifel, doch seit Marias Geburt hatte ich nie aufgehört, ich selbst zu sein. Die Bedürfnisse, die ich vor der Schwangerschaft hatte, waren geblieben: Zeit für mich, ungestörte Samstage mit meinem Mann, Partynächte mit Freunden, Geschäftsreisen, Sport. Am Ende unserer Überlegungen gaben wir die Strampler weg, und ich ging ins Fitnessstudio.

Klischees und Vorurteile aus dem 19. Jhd.

Ein Einzelkind zu haben, ist in Deutschland immer noch eher ungewöhnlich. Die Statistiken zeigen, dass zwar insgesamt weniger Frauen Mütter werden, aber von denjenigen, die sich für Kinder entscheiden – etwa 80 Prozent –, bekommen die meisten zwei. Nur etwa ein Viertel aller Kinder wächst ohne Geschwister auf, und diese Zahl hat sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert. Lange Zeit wurde das Bild von Einzelkindern durch Vorurteile geprägt. Noch 2019 zeigten Forscher der Uni Witten/Herdecke, dass Einzelkindern häufiger narzisstische Eigenschaften zugeschrieben werden als Kindern mit Geschwistern. Zahlreiche Bücher befassen sich mit den Ängsten, ein „einsames“ Einzelkind großzuziehen – oder sogar einen potenziellen „Psychopathen“. Es gibt zahlreiche andere Beispiele: „Leonardo DiCaprio, Natalie Portman, Adele, Al Pacino, Daniel Radcliffe“ – alle ohne Geschwister aufgewachsen und dennoch erfolgreich.

Es gab nie eine wissenschaftliche Grundlage für das Klischee des verwöhnten, egozentrischen Einzelkindes. Dieses Bild entstand im 19. Jahrhundert, als Therapeuten ihre Spekulationen und Verallgemeinerungen als Forschung darstellten. Sie schrieben teils haarsträubende Dinge über Einzelkinder, etwa: „Ihr Leben ähnelt manchmal dem von Parasiten, die nur genießen, während andere alles für sie erledigen müssen.“

Schon vor 40 Jahren wurde bewiesen, dass sich Einzelkinder in ihrer Persönlichkeit und ihrem Verhalten nicht grundlegend von Kindern mit Geschwistern unterscheiden. Die Fixierung darauf, dass Einzelkinder „anders“ seien, ist schlicht nicht haltbar. Auch die Idee, dass zu viel Aufmerksamkeit Kinder verwöhnen würde, ist längst überholt. Pädagogen und Erziehungswissenschaftler betonen heute: Kinder kann man durch emotionale Zuwendung gar nicht verwöhnen.

Was sagen die Einzelkinder selbst?

Bevor mein Mann und ich uns endgültig gegen ein zweites Kind entschieden, fragten wir dennoch bei den Einzelkindern im Freundeskreis nach: Hat euch jemals etwas gefehlt? Fast alle antworteten mit einem klaren Nein. Ein Freund sprach allerdings von der Verantwortung, die allein auf ihm lastet, wenn es um die Pflege seiner älter werdenden Eltern geht. Deshalb haben wir uns vorgenommen: Sobald unsere Tochter alt genug ist, werden wir ihr klarmachen, dass sie ihren Eltern nichts schuldet, nur weil sie in diese Welt gesetzt wurde. Unser Plan ist es, so früh wie möglich die eigene Altersvorsorge zu regeln.

Mehr Glück mit mehr Kindern?

Im englischsprachigen Raum haben Eltern von Einzelkindern ein eigenes Label kreiert: Sie nennen sich „one and done“ – übersetzt etwa „eins und fertig“. Doch so einfach, wie es klingt, ist die Entscheidung für oder gegen ein zweites Kind nicht. Viele Eltern schwanken zwischen extremen Gefühlen. Manchmal ist der Wunsch nach einem weiteren Kind so stark, dass einer der Partner sogar eine Trennung in Erwägung zieht, weil der andere keine weiteren Kinder möchte. Dann gibt es wieder Momente, in denen eine Mutter von drei Kindern fragt: „Würde euch ein zweites Kind wirklich bereichern?“ Ich denke mir: „Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ich weiß wirklich nicht, ob es uns glücklicher machen würde.“

Glück – über Jahrhunderte war das nicht der ausschlaggebende Faktor bei der Entscheidung für ein weiteres Kind. Stattdessen spielten andere Überlegungen eine Rolle: die Fruchtbarkeit, die Stabilität der Partnerschaft, die hohe Kindersterblichkeit früherer Zeiten, die Vorurteile gegenüber Einzelkindern, die Sorge vor Einsamkeit und fehlender Unterstützung im Alter, und der gesellschaftliche Druck, zumindest so viele Kinder zu bekommen, dass die Bevölkerung stabil bleibt.

Herausforderungen in der heutigen Zeit

Diese Gründe sind mittlerweile größtenteils überholt und haben Platz für neue Überlegungen gemacht. Finanzielle Aspekte zum Beispiel sind heute oft entscheidend. In einer Umfrage der Dating-Plattform Elite Partner gaben 41 Prozent der Paare mit Kind an, sich derzeit keinen weiteren Nachwuchs leisten zu können. Hinzu kommen praktische Herausforderungen wie die aktuelle Kita-Krise. Ich muss meine Tochter jeden Nachmittag schon um 15:30 Uhr abholen, und deshalb habe ich ein Drittel meiner Arbeitszeit aufgeben müssen.

Die Herausforderungen rund um die unsichere Betreuungssituation betreffen auch die Väter. Selbst wenn das erste Kind gerade eine anstrengende Phase hinter sich hat, bleibt das oft ein Gesprächsthema. Die Frage, die sich dann stellt, lautet häufig: Bin ich bereit, mich erneut so stark zurückzunehmen? Bei meinem Mann und mir ging es bei der Entscheidung nicht nur um unsere eigenen Bedürfnisse. Wir haben dreieinhalb Jahre lang irgendwie durchgehalten, weil unsere Tochter schon mitten in der Nacht wieder wach und aktiv sein wollte. Wir waren so lange so erschöpft, dass wir uns, als das Thema eines zweiten Kindes wieder zur Sprache kam, fragten: Wer soll denn dann überhaupt für unser erstes Kind da sein?

Schon jetzt sind wir uns nicht immer einig, wenn es um die Betreuung geht. Ich habe den Großteil übernommen, damit mein Mann seinem Job, der oft Reisen erfordert, weiter nachgehen kann – und mir ist bewusst, dass es mit einem zweiten Kind noch schwieriger würde, alles unter einen Hut zu bringen. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts verbringen Mütter im Durchschnitt täglich eine Stunde und 45 Minuten mehr mit der Betreuung ihrer Kinder als Väter. Eine kürzlich veröffentlichte Studie mit über 20.000 Teilnehmern aus acht Industrieländern (ohne Beteiligung Deutschlands) zeigte, dass Geschlechterrollen und der Wunsch nach mehr Gleichberechtigung eine bedeutende Rolle spielen, wenn Paare entscheiden, ob sie ein Kind oder mehrere haben möchten.

Oft diskutiere ich mit Freundinnen darüber, ob ein Geschwisterkind wirklich Vorteile gegenüber einem Einzelkind hat. Die allgemeine Meinung ist, dass es mit nur einem Kind leichter ist, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Mit zwei Kindern hätte ich wahrscheinlich jahrelang nur Teilzeit arbeiten können, und dieser Gedanke behagt mir nicht.

Familienidyll aus den 50er Jahren

Viele aus meiner Generation sind in einem Haushalt aufgewachsen, in dem die Mutter zu Hause blieb – oft in einem Haus mit Garten oder in einer großen Wohnung, gemeinsam mit Geschwistern. Diese Erinnerungen verbinden wir häufig mit einer glücklichen Kindheit. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die meisten Frauen wollen und können heute nicht mehr so leben, auch weil vieles einfach teurer geworden ist. Zudem sind die Ansprüche gestiegen: an den Urlaub, den Haushalt und an uns selbst. Das alles unter einen Hut zu bekommen, scheint fast unmöglich. Dennoch versuchen viele immer noch, diesem alten Idealbild gerecht zu werden.

In der Regel neigt man dazu, das Familienmodell nachzuahmen, das man in seiner eigenen Herkunftsfamilie erlebt und schätzen gelernt hat. Gleichzeitig wird der Kinderwunsch auch stark davon beeinflusst, was in einer Gesellschaft als Idealbild vermittelt wird.

In Deutschland dominiert seit den Fünfzigerjahren ein bestimmtes Familienideal – das der Eltern mit zwei Kindern. Forscher beschreiben die Vorherrschaft dieses Zwei-Kind-Modells als „bemerkenswert“. Es hat das Wirtschaftswunder, die Ära der sexuellen Revolution, die Wiedervereinigung, die Globalisierung und sogar die dritte Welle des Feminismus überdauert. Das Zwei-Kind-Ideal ist allgegenwärtig und durchdringt alle gesellschaftlichen Bereiche. In der Werbung, in Serien und Filmen – überall sehen wir vierköpfige Familien. In einer aktuellen Erhebung des Familiendemografischen Panels gaben mehr als zwei Drittel der 30.000 Befragten an, dass zwei Kinder ideal seien. Nur knapp vier Prozent fanden, dass ein Einzelkind genauso ideal ist.

Verwandtschaftsverhältnisse in anderen Ländern

Nicht überall auf der Welt haftet Einzelkindern ein negatives Image an. In Namibia, zum Beispiel, wächst ein außergewöhnlich hoher Anteil der Kinder ohne ihre Eltern auf – in keinem anderen Land Afrikas ist dieser Anteil so groß. Etwa 45 Prozent der namibischen Mütter ziehen ihre Kinder nicht selbst groß; stattdessen übernehmen oft Geschwister, Großeltern oder Internate diese Aufgabe. Namibia gehört zu den am dünnsten besiedelten Ländern der Welt, und gute Bildungseinrichtungen befinden sich meist nur in den wenigen größeren Städten, oft weit entfernt vom Wohn- und Arbeitsort der Eltern. Dort werden als Geschwister jene betrachtet, mit denen man zusammen aufwächst – unabhängig vom biologischen Verwandtschaftsgrad. Einzelkinder werden in Namibia nicht als spezielle Kategorie thematisiert. Geschwisterliche Nähe hängt dort nicht an gemeinsamer Genetik.

Einzelkinder werden eben nicht nur zu Hause, sondern auch in der Kita oder durch den Kontakt mit Gleichaltrigen geprägt. Wir machen Urlaub mit befreundeten Familien, spielen mit den Kindern aus der Nachbarschaft, und unsere Tochter übernachtet mit ihren knapp vier Jahren bereits regelmäßig bei Freunden, deren Tochter im gleichen Alter ist. Sie ist definitiv nicht allein.

 

FAZIT

Obwohl das Zwei-Kind-Ideal tief in der deutschen Kultur verwurzelt ist und das Bild der „perfekten“ Familie prägt, gibt es immer mehr Eltern, die diesen Erwartungen nicht entsprechen wollen oder können und sich bewusst für ein Einzelkind entscheiden. Das wird auch so lange so bleiben, wie die Realität Eltern dazu veranlasst, individuelle Entscheidungen zu treffen, die besser zu ihrem Leben passen.