Sind unsere Kinder die Verlierer der Pandemie?
Was setzen wir in Deutschland für Prioritäten? Die öffentliche Debatte drehte sich viele Wochen lang nahezu ausschließlich um den Kampf gegen das Virus, die Schäden für die Wirtschaft und ihre milliardenschwere Rettung. Wir machen uns Gedanken darum, wann wir die Fußballstadien wieder mit Publikum füllen können, wir kümmern uns um die Öffnung von Fitness- und Nagelstudios während die Schulen bundesweit für Monate geschlossen blieben.
An der Bedeutung des Problems kann es nicht liegen. Die elf Millionen Schüler sowie fast vier Millionen Kitakinder mit Ihren Eltern sind davon direkt betroffen. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland.
Die Schwächen des Schulsystems und seine Folgen
Das neue Schuljahr nach den Sommerferien sollte dann möglichst normal starten. Zum Alltag gehören jetzt Masken, Abstand, Händewaschen und offene Fenster – und Schulschließungen. Die ersten Schulen haben wegen Corona-Fällen schon wieder zugemacht. Manchmal trifft es einzelne Klassen, Lerngruppen, dann wieder ganze Landkreise und vielleicht bald wieder das ganze Land.
Leider haben die Kultusminister die vergangenen Wochen der Sommerpause weder genutzt, um einen brauchbaren Plan B zu erarbeiten, noch in die digitale Infrastruktur zu investieren. Sie sind alle in die Sommerferien gefahren.
Schulschließungen haben für Kinder und Jugendliche und deren Eltern jedoch gravierende Folgen:
- Zum einen hängen Bildung und Lernfortschritte im Wesentlichen von sozialer Interaktion ab. Das Fehlen dieser kann durch digitales Lernen nicht vollständig ausgeglichen werden, zumal der Fernunterricht bisher an den wenigsten Schulen funktioniert.
- Lange Pausen sind ebenso Gift für das Lernen. Dieser negative Effekt lässt sich besonders gut in den USA nachweisen, die zwei bis drei Monate Sommerferien haben. Es kommt nicht nur zum Wissens-Stillstand, sondern zum Rückschritt.
- Und Schule lebt von Planung. Es gibt etliche Dissertationen zur Wichtigkeit von Rhythmisierung in der Erziehung. Rhythmisierung ist die Zeitstruktur des Tages, der Woche, des Schuljahres, die den Schülern Halt gibt. Arbeit und Pause wechseln sich sinnvoll ab und der Tagesablauf entspricht der menschlichen Natur.
- Nach Rechnung des Ifo-Instituts summiert sich im späteren Arbeitsleben der Lernausfall auf einen gesamtwirtschaftlichen Verlust von 5,4 Billionen Euro. Die geringere Bildung der künftigen Erwerbstätigen schmälert das Sozialprodukt über viele Jahre um rund 2,8 Prozent.
- Hinzu kommt der Arbeitsausfall von Millionen Eltern, die zu Hause nebenbei Ersatzlehrer spielen müssen. Deutschland kann dabei zwei bis drei Prozent an Wirtschaftsleistung entgehen.
Kinderrechte und Ungleichheit
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Bildung, Teilhabe, Förderung und Schutz. Die Kinderrechte sowie das Beteiligungsrecht von Kindern sind jedoch in unserer Gesellschaft nach wie vor nicht anerkannt. Umfragen zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche weder gefragt noch ernstgenommen fühlen. Gleiches gilt im besonderen für Mütter, die in der Krise ihren Beruf nur noch teilweise ausüben konnten.
Und die Corona-Krise verschärft in Deutschland ein Grundproblem des Schulsystems: die Ungleichheit. Bei gut situierten und akademisch geprägten Familien fällt die Lernpause „nicht so sehr ins Gewicht“. Bei Kindern aus benachteiligten oder bildungsfernen Familien sieht das anders aus. Jeder fünfte Schüler zählt in Deutschland zur Problemgruppe der Risikoschüler, die nicht mal die Mindestanforderungen erfüllen. Es sind leistungsschwächere Schüler, die nun in der Krise noch weiter zurückfallen. Wenn die Bundesländer nicht gewaltig gegensteuern, „werden diese Kinder den Rückstand nicht mehr aufholen können“, sagte Jutta Allmendinger, Chefin des Wissenschaftszentrums Berlin.
Der Föderalismus verschärft das Problem
Die Digitalisierung war und ist der Schlüssel zur Arbeitsfähigkeit einer Schule in der Pandemie.
Am Geld kann es kaum liegen. Es ist das dritte Sofortprogramm der Regierung in nur 15 Monaten, um den schleppenden Ausbau der IT-Infrastruktur zu beschleunigen.
Die Mittel treffen auf die Ministerialbürokratie der 16 Kultusministerien der Länder. Auf diese Herausforderung wird mit ‚business als usual‘ reagiert. Eine Flut von Anträgen muss bearbeitet, Gelder müssen verteilt und unendlich viele Erlasse, Verwaltungsvorschriften und Verordnungen neu formuliert werden- und das alles unter Zeitdruck. Sprich: Die Gelder kommen nicht schnell genug bei den Schulen an, die dafür entsprechende Konzepte und Anträge vorlegen müssen. Bis heute wurden insgesamt weniger als 300 Millionen Euro in den 16 Bundeländern bewilligt. Anders ausgedrückt: Nur sechs Prozent der Fördermittel wurden abgerufen.
Nur zum Verständnis: Für die IT-Ausstattung der Schulen sind in Deutschland nicht die 16 Bundesländer zuständig, sondern die 7000 Schulträger. Das ist Föderalismus pur!
Ungezählte Runden waren beispielsweise nötig, um etwa bundesweit einheitliche Bildungsstandards zu verabreden, eine echte Vergleichbarkeit des Abiturs liegt noch in weiter Ferne. Seit Jahren streitet die Schulpolitik über das Abitur nach 12 Schuljahren, über jahrgangsübergreifendes Lernen oder Inklusion. Auch in der Pandemie stritt die Kultusministerkonferenz beispielsweise vehement und wochenlang darüber, ob Prüfungen wie das Abitur überhaupt stattfinden sollten.
Geld über die Schulen auszuschütten, macht die Schulen aber keinen Deut besser. Digitalisierung ist unendlich viel mehr als Kabel, Router und Tablets für Schüler und Lehrer. Und wirklich effektiver digitaler Unterricht umso mehr.
Wer die Bildungseinrichtung auf ein internationales Niveau heranführen will, der muss eine komplexe IT-Architektur planen, Hardware anschaffen, die passende Software konfigurieren, sie kontinuierlich auf dem neuesten Stand halten und eine Service-Infrastruktur aufbauen.
Eine fachlich anspruchsvolle Aufgabe. Und um IT-Spezialisten streitet sich der gesamte Arbeitsmarkt. Ist der IT-Sachverstand dann gefunden, müssen hochkomplexe Förderregularien und alle Vorschriften für EU-weite Ausschreibungen eingehalten werden. Schulleiter, Lehrerinnen und Lehrer sind überfordert, weil jeden Tag etwas Neues zu organisieren sei. Sie fühlen sich von der Politik alleingelassen. Und über allem schwebt der „riesige Personalmangel in den Schulen“. Aufgrund von Personaleinsparungen müssen manche Träger dafür die Dienste von Anwaltskanzleien in Anspruch nehmen.
Da ist es für den Staat leichter, sich an Lufthansa zu beteiligen, als für die Schulen Hardware anzuschaffen!
Bildungssystem krisensicher machen
Entscheidend für den ganzen Prozess ist sicherlich auch die „Haltung der Schulleitung“ und das Engagement einzelner Lehrkräfte, die die Digitalisierung zur Chefsache erklären müssen. Hinzu kommt noch dringend die entsprechende Ausbildung von Studenten und Referendaren und natürlich die Masse der aktiven Lehrer. Das ist viel wichtiger als die Technik selbst.
Denn seien wir ehrlich, auch die beste Videokonferenz ist noch kein Unterricht. Durch die technische Überbrückung der Distanz sind nur Voraussetzungen geschaffen, aber die eigentliche Frage lautet doch: Wie gestalte ich lernwirksamen Unterricht mithilfe von Mentimeter, Padlet, Kahoot usw., um nur einige zu nennen.
Fazit: Zu viel Bürokratie, zu wenig Freiraum und Verantwortungsbewusstsein und eine unzureichende Ausrüstung mit Technik und Computern. Um einen weiteren flächendeckenden Unterrichtskollaps zu verhindern, gilt es länderübergreifende Rahmenregelungen und Standards sowie eine einheitliche Rechtsauslegung und Transparenz zu schaffen. Die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Ländern und den Schulträgern bzw. Kommunen gehört auf den Prüfstand. Mindestens bei der Digitalisierung müssen die Ministerien mehr Verantwortung übernehmen.