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Special: Wie die Digitalisierung allmählich unser Sozialverhalten verändert

Die Digitalisierung hat unser Leben auf den Kopf gestellt – und das gilt auch für unsere Kinder.

Kinder, die seit 2010 geboren wurden, wachsen von klein auf mit Smartphones auf – für sie sind digitale Medien alltäglich und prägen ihre Entwicklung. In Haushalten spielen sie eine große Rolle, während Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren wichtige Entwicklungsphasen durchlaufen. Dabei stehen sie vor vielen Herausforderungen, die für ihr gesundes Aufwachsen entscheidend sind. Mit der richtigen Unterstützung können Eltern ihren Kindern wertvolle Erfahrungsräume bieten. Doch die Digitalisierung stellt viele Eltern vor Herausforderungen – besonders, wenn es darum geht, ihre Kinder in einem bewussten Umgang mit Medien zu begleiten.

Während eine kritische Auseinandersetzung mit Technologie sinnvoll sein kann, ist pauschale Technikfeindlichkeit wenig hilfreich. Deshalb sollte die Diskussion über die Folgen der Digitalisierung nicht als nostalgischer Rückblick missverstanden werden – die Vergangenheit lässt sich nicht zurückdrehen, sondern nur verstehen und mitgestalten. Um das auf eine produktive Weise zu tun, sollten auch die Schattenseiten nicht unter den Tisch fallen. Besonders spannend: die subtilen Veränderungen, die die Digitalisierung in unserem Denken und Fühlen auslöst.

Medien im Alltag von Familien

Die permanente Verfügbarkeit von Smartphone, Tablet und PC beeinflusst unser Verhalten und unsere Erwartungen weit stärker, als uns bewusst ist. Es ist längst bekannt, dass geistige Fähigkeiten verkümmern, wenn wir bestimmte Aufgaben an digitale Geräte delegieren, anstatt sie selbst zu bewältigen. So leidet unser Orientierungssinn, wenn wir uns ausschließlich auf Google Maps verlassen, anstatt Karten zu lesen und Wege aktiv einzuprägen. Unser Gedächtnis wird weniger gefordert, wenn wir uns auf das allgegenwärtige Wissen des Internets stützen. Auch das vertiefte Lesen geht verloren, wenn wir Texte nur noch am Bildschirm überfliegen und sie in endlosem Scrollen konsumieren. All dies führt zu einem spürbaren Rückgang kognitiver Fähigkeiten.

Auch unser zwischenmenschliches Verhalten wird durch den ständigen Medienkonsum beeinflusst. Dabei geht es nicht nur um die oft diskutierte soziale Entfremdung und Isolation, die entstehen kann, wenn ein Bildschirm zur ständigen Barriere zwischen uns und anderen wird. Ebenso wenig ist hier die mangelnde Empathie oder die Verrohung durch den enthemmten Umgang in sozialen Medien gemeint – beides sind offensichtliche Phänomene, die als Problem erkannt wurden. Viel subtiler sind die schleichenden Veränderungen in unserem Verhalten, die weniger drastisch erscheinen und deshalb oft unbemerkt bleiben.

Wie ständige Erreichbarkeit wichtige Werte verwässert

Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Höflichkeit leiden unter der dauerhaften Verfügbarkeit. Da jederzeit eine Nachricht oder ein Anruf genügt, um Pläne kurzfristig zu ändern, verlieren feste Absprachen an Bedeutung. Man fühlt sich nicht mehr verpflichtet, sich an Vereinbarungen zu halten – schließlich kann man sie jederzeit umdisponieren oder absagen, falls sich spontan eine bessere Option ergibt. Oft werden andere nur noch in die Lücken eingeplant, die im eigenen Tagesablauf übrigbleiben.

Dieses Verhalten spiegelt eine Selbstzentriertheit wider, die wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer nimmt. Gleichzeitig erzeugt das ständige Streben nach spannenderen Erlebnissen und außergewöhnlichen Möglichkeiten eine Unruhe – das Gefühl, immer etwas zu verpassen. So entsteht eine paradoxe Situation: Während man in der Suche nach dem „Noch Besseren“ verhaftet bleibt, nimmt die Verbindlichkeit im Umgang mit anderen ab. Am Ende führt beides weder zu echter Zufriedenheit noch zu nachhaltigen zwischenmenschlichen Beziehungen.

Viele Universitäten haben mit unverbindlichem Verhalten zu kämpfen  – etwa, wenn Studierende unregelmäßig zu Vorlesungen erscheinen – liegt nicht nur an fehlender Disziplin. Das Internet schafft zwar keine neuen Möglichkeiten, macht sie aber extrem leicht zugänglich. Verbindlichkeit fühlt sich dadurch oft wie eine Einschränkung an, während es viel verlockender scheint, sich alle Türen offen zu halten.

Doch zu viel Freiheit kann auch überfordern und orientierungslos machen. Ohne klare Leitlinien wächst das Bedürfnis nach Halt – und nicht selten landen Menschen dann bei fragwürdigen Online-Vorbildern. Plötzlich wird Belangloses gefeiert, Maßstäbe verschieben sich, und die innere Orientierung geht mehr und mehr verloren.

Non-Stop Unterhaltung und die Auswirkungen

Wirklich frei ist man nicht, wenn man sich nicht mehr vom Internet lösen kann. Social Media Plattform wie TikTok kann süchtig machen, weil der endlose Strom kurzer Videos das Bedürfnis nach immer mehr Unterhaltung weckt. Digitalkonzerne verstehen es meisterhaft, Mechanismen zu schaffen, die süchtig machen – und es sind längst nicht nur junge Menschen, die diesem Sog verfallen. Ein fast alltägliches Bild sind jene Gestalten, die mit großen Kopfhörern und den Blick fest aufs Smartphone gerichtet durch die Welt gehen, dabei jedoch völlig von ihrer realen Umgebung abgeschirmt sind.

Die digitale Flucht führt meist nicht zu Tiefgang, sondern eher zu Zerstreuung. Natürlich bietet das Internet auch anspruchsvolle Inhalte – doch diese erfordern eine Konzentration, die in einem Zustand ständiger Ablenkung kaum aufzubringen ist.

Übermäßiger Internetkonsum kann nicht nur die momentane Konzentration beeinträchtigen, sondern langfristig zu einer generellen Unfähigkeit führen, sich fokussiert mit einer Sache zu beschäftigen. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens sind viele Webseiten so gestaltet, dass sie das Auge mit einer Flut an Farben, Animationen und wechselnden Inhalten überreizen, was Stress und Unruhe erzeugt. Die Vielzahl an Reizen ist kaum zu verarbeiten, doch paradoxerweise gewöhnt man sich daran – das ständige Durcheinander wird zur Normalität.

Infolgedessen wirkt eine schlichte Textseite ohne visuelle Ablenkungen plötzlich monoton und ermüdend. Was früher als Gelegenheit zur Vertiefung empfunden wurde, erscheint nun als trockene „Bleiwüste“, die die Aufmerksamkeit nicht mehr fesseln kann.

Zweitens ist das Wissensangebot im Internet oft mit Unterhaltungselementen verbunden, Texte werden von Bildern unterbrochen, Links leiten zu anderen Seiten und Themen weiter. Wiederholt Erlebtes verfestigt sich im Gedächtnis aber oft zur Gewohnheit, und so kann sich die Erwartung herausbilden, dass Wissensaufnahme mit Unterhaltung gekoppelt sein müsse. Für die harte Arbeit des Einprägens von Wissen, für die Mühen, das Wissen im Akt des Verstehens zu durchdenken, gibt es dann kaum mehr Verständnis und Kraft. Abschweifen macht es schwer, sich zu konzentrieren. Das Angenehme des anstrengungslosen Konsums ist leichter zu haben als das Gute der mühsamen Aneignung.

Sofortige Antworten auf alle Fragen – eine Illusion von Allwissenheit

Was passiert mit uns, wenn jede Frage in Sekundenschnelle beantwortet wird? Die Möglichkeit, alles zu googeln – von Stilberatung über Reparaturanleitungen bis hin zur Bevölkerungsentwicklung im Dreißigjährigen Krieg – vermittelt den Eindruck, dass Wissen unbegrenzt verfügbar und die Welt restlos erfassbar sei.

Doch diese ständige Abrufbarkeit entzieht uns die Erfahrung der eigenen Wissenssuche und schwächt die Fähigkeit, selbstständig zu urteilen. Zudem kann sich unbewusst die Vorstellung festsetzen, dass es für jede Frage eine eindeutige Antwort gibt – eine trügerische Annahme, denn nicht alles Wissen ist objektiv, vollständig oder unveränderlich.

Die Herausforderung der Bildung in der digitalen Welt

Ob wir politische Probleme immer öfter als simple Knoten sehen, die man mit einem einzigen Schlag lösen kann, weil das Internet unser Denken prägt, ist unklar. Vielleicht liegt es einfach daran, dass es so viele Krisen und Herausforderungen gibt, dass wir uns nach schnellen und einfachen Lösungen sehnen. Sicher ist aber: Wer die Bequemlichkeiten des Internets unüberlegt nutzt, setzt sich weniger mit der echten Komplexität der Welt auseinander. Stattdessen leidet die Fähigkeit, Dinge differenziert zu betrachten und kluge Entscheidungen zu treffen.

Dabei sind die negativen Auswirkungen des digitalen Konsums keineswegs unvermeidlich. Die digitale Welt bietet nicht nur Ablenkung und Bequemlichkeit, sondern auch enorme Chancen zur persönlichen und geistigen Weiterentwicklung. Doch um diese Möglichkeiten zu nutzen, bedarf es einer bewussten Gegensteuerung – eines Widerstands gegen die Verlockung des Oberflächlichen und Mühelosen. Kurz gesagt: Es braucht Bildung.

Bildung muss heute mehr denn je zeigen, dass sich Anstrengung lohnt – denn es war noch nie so einfach, ihr aus dem Weg zu gehen. Passiver Konsum mag verlockend sein, aber echte Erkenntnis, die aus eigener Leistung entsteht, gibt viel mehr. Das Internet kann dabei helfen, wenn man es bewusst nutzt. Damit das gelingt, müssen Eltern, Schulen und Universitäten zusammenarbeiten, statt Verantwortung abzuschieben. Am Ende kann nur bilden, wer selbst gebildet ist. Ein bewusster Umgang mit der Digitalisierung könnte uns genau dafür sensibilisieren: Technik nicht nur zu nutzen, sondern sinnvoll zu gestalten.